Buddha, wo bist Du? (Auszug)
Ehrwürdiger Meister Hsing Yun (1927-, Fo Guang Shan)
Buddha, wo bist du?
Während der fünfundsiebzig Jahre meines Lebens als buddhistischer Mönch, habe ich überall nach dir gesucht, bis ans Ende der Welt.
Ich reiste acht Mal hinüber nach Indien, in dein Heimatland, Buddha.
Ich dachte, ich könnte dich dort vielleicht treffen.
Ich warf mich nieder neben den Vajra-Sitz in Bodhgayā, hoch erhob sich würdevoll und majestätisch der Mahābodhi-Tempel, aber noch immer sah ich deine Erscheinung nicht!
Sehr oft warf ich mich nieder auf den Boden der Haupthalle des Klosters, sehr oft las ich deine Worte des
Dharma unter dem Kerzendocht.
Buddha, könntest du nur erscheinen, damit ich dich sehen kann?
Inmitten der Geräusche von Morgengong und Abendtrommel sehnte ich mich danach, deine Stimme zu hören, im Plätschern der Bäche fand ich deine Stimme, gesprochen von deiner grenzenlosen und ausgedehnten Zunge; im Angesicht der Berge fand ich nichts anderes als Manifestationen deines reinen Körpers.
Nur so vermochte ich mir ein wenig Trost verschaffen.
Die üppigen Chrysanthemen waren alle Ausdruck deiner wundervollen Wahrheit, die knackig grünen Bambusse waren nichts anderes als Manifestationen deines Dharma-Körpers.
Doch als dein Schüler bin ich auch nur ein hingebungsvoller gewöhnlicher Mensch, der sich stets danach sehnt, dich persönlich unterrichten zu hören.
Wie schwer ist es, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht!
Buddha, wo genau bist du?
Von der Kindheit über die Jugend, und schließlich bis zur Blüte des Lebens, bin ich nun ein klappriger alter Mann.
Dass ich nicht in der Lage bin, dich zu finden, vermag ich nicht hinzunehmen!
Deshalb reiste ich um die Welt, in der Hoffnung, dass sich unsere Wege irgendwo kreuzten.
Ich fuhr mit der Bahn, mit Hochgeschwindigkeitszügen und der Magnetschwebebahn.
Wie die Bäume vor dem Fenster schwankten und Wiesen an mir vorbeiflogen, fragte ich mich, ob ich dich dort sehen könne, Buddha?
Ich flog mit Flugzeugen, inmitten der schwebenden weißen Wolken, und vermochte selbst deinen Schatten nicht zu sehen.
Buddha, könntest du dich einfach zeigen?
Ich segelte über den Pazifik, den Atlantik und den Indischen Ozean, auf den Wellen des Ozeans, erschien alles riesig und grenzenlos. Ich blickte nach links und rechts, aber Buddha, wo bist du?
Oh! Schließlich….
Das Diamant-Sūtra bot mir einen Hinweis:
Wenn jemand in den Formen nach mir schaut, in den Klängen nach mir trachtet, ist dieser Mensch auf dem falschen Weg und wird den so-gekommenen Tathāgata nicht erblicken.
Es stellt sich also heraus, dass wir dich nicht in den Äußerlichkeiten suchen sollen und auch nicht in unseren Phantasien.
Du bist gestaltlos und formlos, du bist inmitten der großen Wandlungen des Universums.
So hast du im Grunde schon Einzug in mein Herz gefunden.
Wenn ich esse, speist du mit mir.
Wenn ich gehe, schreitest du mit mir.
Selbst wenn ich schlafe:
„Jeden Morgen wache ich mit Buddha auf,
jede Nacht schlafe ich Buddha umarmend ein!“
Nun weiß ich endlich, wo du bist.
Du wohnst in den Herzen aller.
Von nun an muss ich nicht mehr nach dir suchen,
ich trage dich bereits in meinem Herzen.
Wofür sollte ich dich weiter suchen?
Der Buddha ist der Geist, der Geist ist der Buddha.
Im Grunde müssen wir Menschen uns vervollkommnen, dann können wir uns mit dir verbinden.
So ist es möglich, in einer einzigen Blume die ganze Welt zu sehen, in einem einzigen Blatt den ganzen so-gekommenen Tathāgata.
Die Welt ist nur eine Schöpfung des Geistes, das Dharma-Reich ist einfach da.
In der endlosen Zukunft wird Buddha stets in meinem Herzen wohnen.
── aus Shige Renjian