Über Avalokiteśvara reden
Song Xi (1947-)
Der andere Name von Avalokiteśvara, Guanzizai („Der auf natürliche Weise Beobachtende“), ist für mich besonders bedeutungsvoll. Vor vielen Jahren ist meine Mutter ernsthaft krank geworden und gestorben. Nur durch den Tod einer mir nahestehenden Person habe ich das Leiden der Unbeständigkeit wirklich verstanden.
Es ist, also ob die Krankheit und der Tod meiner Mutter ein Fenster für mich geöffnet haben, durch das ich grenzelose Dunkelheit erblicken konnte. Und meiner Trauer konnte ich nur mit Angst begegnen.
Ich habe es geschafft, diese Phase der Dunkelheit und Trauer in meinem Leben sicher zu überstehen, indem ich Stärke und den richtigen Weg durch das Abschreiben und Zitieren des Herz-Sutras sowie durch das Zeichnen von Bildern von Avalokiteśvara gefunden habe.
Auch wenn das Prajñāpāramitā Herz-Sutra kurz ist, denn es hat nur 260 Zeichen, so ist es doch die glitzernste Perle im riesigen Ozean der buddhistischen Schriften, die ein funkelndes, tiefes Licht ausstrahlt: “Als der Bodhisattva Avalokiteśvara das Wesen des Erwachens auf natürliche Weise beobachtete und das Prajñāpāramitā praktizierte, so realisierte er, dass die fünf Aggregate von Natur aus leer sind und überkam so alle Formen von Krankheit und Leiden.”
Jedes Mal wenn ich diesen ersten Satz des Herz-Sutras abgeschrieben habe, habe ich mich so bewegt gefühlt, dass ich sprachlos geworden bin.
“Beobachten” heißt in diesem Kontext die ultimative Wahrheit beobachten und erfahren.
“Natürlich” verweist hier auf den Zustand der ultimativen Befreiung und der Natürlichkeit, die auf das Erlangen der Weisheit folgen.
Im Buddhismus erhalten die Bodhisattvas ihre Namen in Übereinstimmung mit ihren Tugenden. Deswegen kann jeder, der die Wahrheit beobachten und den Zustand der Natürlichkeit erreichen kann, “Guanzizai Bodhisattva” genannt werden. Auf diese Weise sind alle Wesen auch ein Bodhisattva. Und der Zustand der Natürlichkeit ist eben nur natürlich.
── aus Sanshisan Tan Zhaji