Die Frage des Lebens
Mo Yan (1955-)
I
In dieser Welt ist es ein Tabu, ausnahmslos vollkommen zu sein. Man sehe sich den Mond an: sobald er voll ist, wird er binnen kurzem wieder abnehmen. Sobald die Früchte an einem Baum reif geworden sind, werden sie abfallen. Um fortdauern zu können, sollte stets Raum für Unzulänglichkeiten vorhanden sein.
II
Es gibt für alles eine Grenze. Wird sie überschritten, ist die Bestrafung unvermeidlich. Dies ist eine schlichte Lebensphilosophie und gleichsam ein Gesetz, welches auf viele Dinge in der Natur zutrifft.
Man sagt, Inder fangen Affen mit einem besonderen hölzernen Käfig, in dem Futter liegt. Greifen die Affen nach dem Essen, können sie ihre Hände nicht mehr herausziehen. Würden sie die Hände herausziehen wollen, müssten sie vom Futter ablassen. Doch die Affen weigern sich, davon abzulassen, da ihnen die Klugheit dazu fehlt.
Verfügen menschliche Wesen über die Klugheit abzulassen?
Einige mögen zwar den Verlockungen des Geldes widerstehen, können aber nicht den Versuchungen weiblicher Schönheit widerstehen. Manche können beidem widerstehen, können aber nicht den Versuchungen der Macht widerstehen. Es existieren immer Dinge, von denen Menschen nicht in der Lage sind abzulassen. Dies ist die Schwäche der Menschen. Und dies ist, was sie so vielseitig macht.
III
Fo Guang Shan ist ein Ort, der ein Gefühl von Wärme vermittelt. Kommt man an einem kalten Tag zu diesem Ort, so fühlt man die Warmherzigkeit. Kommt man hingegen an einem Tag in sengender Hitze, so fühlt man die Frische.
Dieser Ort sollte unser erstrangiges Zuhause darstellen. Unsere eigentlichen Häuser, in denen wir leben, sind Heime für unseren physischen Körper, während hier das Zuhause für unsere Spiritualität ist. Es ist weit wichtiger ein spirituelles zu Hause zu finden, als eines für den physischen Körper.
Wo jemand spirituellen Trost findet, werden all seine Handlungen an einer Richtschnur ausgerichtet und in Übereinstimmung mit den Grundlagen der Sittlichkeit sein.
── aus Wenxuejia De Mengxiang
Kränkung bildet einen unabdingbaren Teil des Lebens. Je erfolgreicher jemand ist, desto mehr Ungerechtigkeiten hat er erlebt. Um seinem Leben einen Wert und den nötigen Glanz zu verleihen, sollte man sich nicht zu sehr um Kränkungen scheren. Man sollte diese nicht den Geist vereinnahmen und das Leben durcheinander bringen lassen. Vielmehr sollte man lernen, es abzutun, indem man drüber lächelt, es zu ertragen, indem man über den Dingen steht, und die Situation zu wandeln.
Die Weisen verstehen es, Geduld zu üben, anderen um sich herum zu vergeben, und entlang von Toleranz sich selbst zu stärken.
── aus Mo Yan Yulu Ji