Brief zum Abschied von der Nordhalle
Dongshan Liangjie (807-969, Tang-Dynastie)
Als die Buddhas in Erscheinung traten, stammte ein jeder von ihnen von seinen Eltern ab.
Sämtliche Phänomene werden in Abhängigkeit von Himmel und Erde hervorgebracht.
So kann man nicht ohne Eltern geboren werden, ohne Himmel und Erde würde man nicht heranwachsen.
Wir sind angewiesen auf diejenigen, die uns aufziehen und lehren, dafür sind wir ihnen dankbar.
Und wir alle werden von ihrer Tugendhaftigkeit behütet und gefördert.
Alle fühlenden Wesen und alle Erscheinungen sind vergänglich, sie sind nicht losgelöst von Geburt und Tod.
Großgezogen zu werden, innig behütet zu werden und herzlich aufgezogen zu werden, all das ist nicht leicht zu begleichen.
Selbst wenn man alle möglichen weltlichen Opfer darbringen könnte, so könnte man noch immer nicht solche Güte zurückzuzahlen.
Selbst wenn man seine Eltern mit seinem eigenen Blut nähren würde, würde sie das auf ewig gesund halten?
Der Klassiker der Kindespietät besagt:
„Auch wenn das Kind Rind-, Hammel- und Schweinefleisch bereitstellt, um seine Eltern zu ernähren, kommt es dennoch nicht seiner Kindespflicht nach.“
Enge Beziehungen führen in den unendlichen Zyklus der Wiedergeburt.
Es gibt keine wirkungsvollere Weise, die Liebe und Herzensgüte zu begleichen, als durch das Verdienst, als Mönch in die Hauslosigkeit zu ziehen.
Wenn man auf dem Fluss der Liebe Geburt und Tod überwindet, und wenn man das Meer des Leidens mit all den Sorgen hinter sich lässt, können tausende Leben der Eltern entschädigt werden, und man vermag die Herzensgüte von Eltern für zehntausende Kalpas zu begleichen. Ihre vierfache Gnade aller drei Sphären wird nicht unentlohnt bleiben.
So heißt es im Sūtra:
“Verlässt ein Kind das zu Hause [um Mönch zu werden], so werden neun Generationen in den Himmel aufsteigen.”
Ich, Liangjie, gebe meinen Platz im Leben auf und gelobe, nicht nach Hause zurückzukehren. Entlang des irdischen Staubes unzähliger Kalpas werde ich eines Tages die Prajñā begreifen.
Ich wünsche, dass ihr, meine Eltern, dies versteht und zufrieden seid, mich gehen zu lassen, euch nicht verfangt, und nicht verharrt in unserer Bindung.
Ich wünsche, ihr könnt von König Śuddhodana und Königin Māyā lernen, die zu einer anderen Zeit an einem anderen Tag dem Buddha begegnet sind.
Heute trennen sich nun unsere Wege. Ich kehre euch nicht den Rücken, um nicht für euch sorgen zu müssen, die Zeit steht nicht still!
Daher wird Folgendes gesagt:
„Wenn niemand heute erlöst wird, wann dann?“
Ich hoffe, ihr misst mich nicht.
Die Erwiderung meiner Mutter
Du und ich sind verbunden durch vergangene Ursachen und Bedingungen, um die Liebe von Mutter und Kind zu teilen.
Als ich schwanger wurde, betete ich zu den Göttern und dem Buddha: „Gebt mir einen Sohn.“
Als ich dich austrug, hing mein Leben am seidenen Faden. Als meine Wünsche erhört wurden, habe ich dich hochgehalten wie einen Schatz. Du hast dich beschmutzt, aber mich kümmerte der üble Geruch nicht. Ich pflegte dich fleißig und wurde nicht müde, dies zu tun. Als du heranwuchst, begannst du zu studieren. So manches Mal kamst du spät nach Hause, und ich würde im Hauseingang auf dich warten. Es kam dein Brief, darauf bestehend, dass du ein Mönch werden wirst. Dein Vater war zu dem Zeitpunkt verstorben, ich war alt geworden, und du warst ohne Brüder. Auf wen sollte ich mich nun verlassen? Mein Sohn hatte die Absicht, mich zu verlassen, ich aber hatte nicht die Absicht dich preiszugeben.
Nachdem du gegangen warst, weinte ich Tag und Nacht. Wie bitter war das für mich! Nun, da du gelobtest, nicht nach Hause zurückzukehren, folge ich augenblicklich deinem Wunsch. Ich wage es nicht, dich wie Wang Xiang zu betrachten, der auf Eis schlief, oder wie Ding Lan, der Holz kerbte, sondern wie Maudgalyāyana*, der mich errettet. Hier entziehe ich mich ich den irdischen Tiefen, dort klettere ich zu den Früchten des Buddha empor. Tritt es so nicht ein, und bleibt mir noch eine Träne, so mögest du es verstehen.
─ aus Dongshan Wuben Chanshi Yulu
* Wichtiger Jünger des Buddha, der bekannt für seine übernatürlichen Kräfte ist. Das Ullambana-Sūtra beschreibt, wie er seine leidende Mutter in der Hölle entdeckte, sich an Buddha wandte, um ihn um Hilfe zu bitten. Der Buddha bat ihn darum, zum Ende der Zeit der Sommer-Retreats dem Saṃgha eine Opfergabe darzubringen, womit er das Leid der Mutter lindern könne.